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Warum landet so viel Essen in der Mülltonne und was können wir dagegen tun?

Mehr als 18 Millionen Tonnen Lebensmittel verschwenden wir in Deutschland jährlich. Immer mehr Essen landet in der Mülltonne, nicht nur in unseren eigenen Haushalten, sondern vor allem durch Supermärkte und Lebensmittelläden.
SIRPLUS nimmt sich genau dieser Problematik an – seit mehreren Jahren schon setzen sich die Berliner*Innen für einen bewussteren Umgang unserer Nahrung ein und retten Lebensmittel vor der Mülltonne.
Im Interview verraten sie uns, was das Mindesthaltbarkeitsdatum eigentlich bedeutet, wo sie das Problem der Lebensmittelverschwendung sehen, wie einfach es sein kann, Produkte zu retten und wo man damit überhaupt am besten anfängt.

Beim Stöbern auf eurer Internetseite fiel mir vor allem ein Slogan immer wieder auf: Ihr wollt ein Bewusstsein für den Umgang mit Lebensmitteln schaffen. Woher kommt diese Mission und warum rettet ihr Lebensmittel?

Raphael Fellmer setzt sich bereits seit 2009 für mehr Lebensmittelwertschätzung ein. Zunächst containerte der Berliner in Den Haag, bevor er 2010 ohne Geld per Anhalter von Holland nach Mexiko reiste. In den insgesamt 15 Monaten hat er sich von dem ernährt, was andere nicht mehr essen oder verkaufen wollten. Während dieser Reise ist ihm bewusst geworden, wie viele Lebensmittel verschwendet werden und wie viele Menschen, im Gegensatz dazu, täglich Hunger leiden. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland begann er seinen Geldstreik, um mehr Bewusstsein für die Lebensmittelverschwendung und deren Folgen zu schaffen. 2011 lernten sich Raphael Fellmer und Martin Schott kennen – das Gründerduo engagiert sich seitdem gemeinsam für die Lebensmittelwertschätzung. Mit Martins Unterstützung initiierte Raphael die foodsharing Bewegung, welche mittlerweile mehr als 45.000 Foodsaver hat, die bei über 4500 Betrieben Lebensmittel retten. Mit SIRPLUS wollen die zwei Berliner das Lebensmittelretten mainstream machen und sich mit ihrer Vision dafür einsetzen, dass alle Menschen genügend zu essen haben und alle Lebensmittel auch tatsächlich gegessen werden.

Wir in der westlichen Welt leben in einer enormen Überflussgesellschaft, in der wir unseren Mitteln zum Leben nicht mehr die Wertschätzung zuteil kommen lassen, die sie verdienen. Pro Jahr werden alleine in Deutschland 18 Millionen Tonnen verschwendet. In jedes Lebensmittel fließen unglaublich viele Ressourcen und außerdem entsteht bei der Produktion eine große Menge an CO2. Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir nachhaltig mit den Produkten umgehen und diese wertschätzen. Denn jedes Lebensmittel hat es verdient, gegessen zu werden.

SIRPLUS Gründer Martin Schott und Raphael Fellmer (Quelle: SIRPLUS)

Woher bezieht ihr eure geretteten Lebensmittel?

Wir arbeiten direkt mit Produzenten, Großhändlern und Landwirten zusammen. Das heißt, dass wir die überschüssigen Lebensmittel kaufen, welche bereits entlang der Wertschöpfungskette verschwendet werden und es somit nie in den Supermarkt und zum Endkonsumenten schaffen. Gründe hierfür sind z.B. Überproduktion, Verpackungsfehler aber auch das Mindesthaltbarkeitsdatum. Wir haben mittlerweile über 400 Partner, welche diese Lebensmittel an uns verkaufen, da sie vom normalen Handel nicht genommen werden. Somit entsteht eine win-win-win Situation für die Produzenten, den Konsumenten und die Umwelt.

In eurem Onlineshop hat man die Möglichkeit eine Retterbox zu bestellen, in welcher sich eine große Auswahl verschiedener geretteter Lebensmittel befindet. In diesen Boxen verstecken sich auch immer wieder Überraschungsprodukte, welche man so vielleicht nicht gekauft hätte und durch welche man in der Küche etwas kreativer kocht. Welches eurer Lieblingsrezepte wäre euch ohne Foodsaving nie eingefallen?

Pasta Pancakes 🙂 Wir haben letztens Mal wieder viel zu viel Pasta gemacht und hatten am nächsten Tag keine Lust wieder das gleiche zu essen. Und dann haben wir einfach herzhafte Pancakes bzw. Pastapuffer darauf gemacht – mega lecker.

Auf jedem Produkt im Supermarkt befindet sich ein Mindesthaltbarkeitsdatum. Das bedeutet aber nicht, dass die Lebensmittel nicht mehr genießbar sind, richtig?

Das Mindesthaltbarkeitsdatum auf verpackten Lebensmitteln gibt den Zeitpunkt an, bis zu dem dieses Lebensmittel bei richtiger Aufbewahrung seine spezifischen Eigenschaften, beispielsweise Geruch, Aussehen und Geschmack, behält. Da 50% der Lebensmittel in Privathaushalten verschwendet werden, ist es uns von SIRPLUS wichtig, den Menschen helfen auf ihre Sinne zu vertrauen, denn original verschlossene Verpackung die richtig gelagert wurden, sind auch nach Ablauf des MHD (Mindeshaltbarkeitsdatum) fast immer noch Wochen, Monate und sogar Jahre genießbar. Allerdings sollte man sich grundsätzlich – auch vor Ablauf des MHD – davon überzeugen, dass sie noch nicht verdorben sind. Bei untypischem Aussehen, Geruch, Geschmack oder Konsistenz solltest Du das Produkt nicht mehr essen. Hier ein Merksatz, den man immer allen skeptischen Menschen mitgeben kann: Riechen, fühlen, schmecken statt nur das MHD zu checken.

Nicht zu verwechseln ist das MHD mit dem Verbrauchsdatum, was z.B. bei Hackfleisch oder rohen Eierspeisen verwendet wird. Nach Ablauf dieses Datums, dürfen die Produkte nicht mehr verkauft werden und sollte dann auch nicht mehr gegessen werden.

Das Team von SIRPLUS beim Klimastreik (Quelle: SIRPLUS)

Eine andere Art Lebensmittel zu retten, wäre zum Beispiel Containern. Wie steht ihr dazu?

Raphael hat selber zu Beginn seines Gelstreiks containert, bis BioCompany ihm dann die Lebensmittel zur Mitnahme bereit gestellt hat und er dafür nicht mehr in die Tonne springen musste. Viele Unternehmen sind hier auch schon sehr kooperativ und stellen die überschüssigen oder abgelaufenen Lebensmittel gemeinnützigen Organisation oder foodsharing zur Abholung zur Verfügung. Wir finden die Entwicklung super und denken, dass es immer besser ist, mit den Supermärkten direkt in Kontakt zu treten und einen offenen Dialog einzugehen, um nachhaltig mehr zu verändern und setzen uns dafür ein, dass eines Tages überhaupt erst garnichts in der Tonne landet was noch genießbar ist.

Neben dem Onlineshop und den Retterboxen, habt ihr auch 4 Läden in Berlin eröffnet. Ist es nicht umweltfreundlicher, gerettete Lebensmittel direkt weiterzuverkaufen und damit auf einen weiteren CO2-Verbrauch zu verzichten?

Natürlich verbrauchen wir mit unserem Online Shop, aber auch mit dem Betrieb unser 4 Rettermärkte in Berlin, Ressourcen und stoßen C02 aus. Allerdings retten wir im Verhältnis viel mehr Treibhausgase, als dass wir welche ausstoßen. Denn im Durchschnitt verbraucht ein Kilogramm Lebensmittel 4.5kg C02, was rund 25 Kilometer Fahrt mit einem herkömmlichen Diesel PKW bedeutet – ohne die Arbeitskraft und die Degradierung der Böden etc. Wenn man dieses Lebensmittel also verschwenden würde, wäre der CO2 Ausstoß, die Wasser- und Arbeitskraft etc. komplett umsonst. Derzeit wird eine Ackerfläche von der Größe von 1.5 mal der EU jährlich angebaut und nicht gegessen, eine gigantische Verschwendung und das obwohl ⅛ der Weltbevölkerung an Hunger leidet. Der prozentuale Anteil, der durch den Versand erfolgt ist also verhältnismäßig gering und liegt im einstelligen Prozentbereich. Ohne unseren Online Shop wäre es außerdem nicht möglich, dass wir so viele Lebensmittel retten und dadurch in ganz Deutschland Menschen für diese Thematik sensibilisieren und ihnen das Lebensmittelretten leicht zugänglich und möglich machen. Denn wir glauben, nur wenn wir den Ablauf so bequem wie das Einkaufen bei anderen Lebensmittelhändlern machen, werden wir das Retten von Lebensmitteln in die Mitte der Gesellschaft bringen.

Was passiert mit den Lebensmitteln, welche ihr nicht mehr weiterverkaufen könnt?

In unseren Rettermärkten gibt es immer eine Kiste, in der wir die Produkte, die wir nicht mehr verkaufen, verschenken. Dies trifft vor allem auf Dinge, wie zum Beispiel Obst und Gemüse, zu. Von den abgepackten Produkten müssen wir aber nur sehr selten etwas aussortieren. Und wenn wir dies doch mal tun, werden die Lebensmittel oft an gemeinnützige Organisationen verschenkt oder gehen an unsere Mitarbeiter*Innen.

In der Retterbox befinden sich viele leckere Lebensmittel die vor der Verschwendung bewahrt wurden. (Quelle: SIRPLUS)

Kann ich in meiner eigenen Stadt vor Ort helfen, um Essen vor der Mülltonne zu bewahren? Wo kann ich am besten anfangen?

Ja klar, jeder Mensch kann helfen und etwas bewegen. Mit unserem Konsumverhalten haben wir eine große Macht, ob wir wollen oder nicht.

1. Mit jedem Einkauf kannst Du etwas ändern: Als Konsument*in kannst du einiges bewegen. Was Du kaufst und was nicht, ist ganz allein Deine Entscheidung. Werden Lebensmittel zu Ladenhütern, ist dies immer auch ein Feedback an die Produzent*innen, die ihr Angebot an der Absatzmenge orientieren. Nutze also Deinen Einfluss und positioniere Dich klar für bestimmte Lebensmittel, die Du mit einem guten Gewissen kaufen kannst.

2. Sprich über Lebensmittelwertschätzung: Niemand würde behaupten, dass es ein tolles Gefühl ist, Lebensmittel in die Tonne zu schmeißen. Oftmals ist es vielen Menschen nicht bewusst, dass sie aufgrund von Routinehandlungen eine Unmenge an Lebensmittelabfällen verursachen. Sei ein Vorbild und spreche mit möglichst vielen Menschen über dieses Thema. Mit Sicherheit wirst du auf Zustimmung und Anerkennung stoßen. Trau Dich- es macht viel Spaß.

3. Das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) und das Verbrauchsdatum: Das MHD, welches von den Produzenten festgelegt wird gibt an, bis zu welchem Datum ein Lebensmittel bei sachgerechter Aufbewahrung auf jeden Fall ohne wesentliche Geschmacks- und Qualitätseinbußen sowie gesundheitliches Risiko zu konsumieren ist. Kurz: Wenn Du das Lebensmittel richtig lagerst, dann schmeckt es meistens auch noch nach diesem Datum so, wie es sich der Hersteller gedacht hat. Das Verbrauchsdatum unterscheidet sich vom MHD dahingehend, dass die Lebensmittel nach Ablauf des Datums auf keinen Fall mehr verzehrt werden sollten. Aus mikrobiologischer Hinsicht kann der Verzehr sehr gefährlich sein. Das Verbrauchsdatum findest Du jedoch meist nur auf leicht verderblichen Lebensmitteln, wie z.b. auf rohem Fleisch.

4. Nutze Deine Sinne: Kontrolliere Lebensmittel, die bereits abgelaufen sind durch Geruch, Aussehen und ihren Geschmack. Siehst Du Verfärbungen oder Veränderungen? Zieh Deine Nase zu Rate, riecht es beißend, sticht es in der Nase untypisch? Was sagt die Zunge dazu? Der Körper ist ein wahres Testwunder! Probiere es aus.

5. Station Supermarkt: kaufe nur soviel ein, wie du wirklich brauchst. Halte Dich an Deine Einkaufsliste. Diese kannst Du auch digital auf deinem Handy speichern. Hilfreich ist auch, wenn du morgens kurz ein Foto von deinem Kühlschrank machst. Ein Klick und Du fragst dich später im Laden nicht mehr “habe ich das nicht noch Zu Hause?!”. Empfehlenswert ist außerdem dann einzukaufen, wenn Dein Magen nicht knurrt. Es klingt verrückt, aber hungrige Menschen kaufen wirklich mehr ein, als gesättigte Menschen.

6. Station Küche: Auch hier gilt: manchmal sind Die Augen größer als der Magen. Vertraue darauf, dass eine gewohnte Menge an Essen ausreicht. Wichtig ist auch, dass Du versuchst Lebensmittelverpackungen komplett zu leeren.

7. Nach dem Essen: Wenn du Reste hast, lasse sie abkühlen bevor Sie in den Kühlschrank oder aber in die Kühltruhe wandern. Denke daran, dass warmes Essen die Temperatur in der Kühlung erhöht und dadurch die Haltbarkeit der Lebensmittel beeinflusst werden kann. Nutze Deine Reste für neue Gerichte. Du wirst sehen, dass tolle Neue Sachen entstehen können.

8. Für diejenigen, mit einem grünen Daumen: Verwende Dein eigenes Obst und Gemüse, anstatt es zu kaufen. Hast Du zu viel, mache Marmelade aus dem Obst, fermentierte Gemüse, friere es ein oder, oder, oder. Es gibt viele Möglichkeiten. Nutze Deine Kreativität.

9. Station Cafe, Restaurant oder Arbeit: Wenn Du im Cafe, im Restaurant oder bei der Arbeit bist: Habe immer eine Brotdose dabei- Du wirst sehen, morgen freust Du dich tierisch über einen leckeren Snack. Teile Dir ebenso Vorspeisen mit deinen lieben Freunden oder Kollegen. Der gemeinsame Genuss macht eh viel mehr Spaß und so kannst Du sicher sein, dass auch noch Platz für den Hauptgang ist.

Grundsätzlich kann man sagen, dass es nicht nur darum geht achtsam Zuhause, beim Einkauf und beim Außerhausessen mit Lebensmittel umzugehen, sondern sich auch damit auseinanderzusetzen, was man ist, pflanzliche Lebensmittel verbrauchen oft bis zu 80% weniger Fläche, Wasser und somit auch weniger C02, also indirekt hat was wir essen auf die Verschwendung von Lebensmittel einen sehr großen Einfluss.

Das Team von SIRPLUS (Quelle: SIRPLUS)

Was müssten große Supermarktketten und Produzent*Innen verändern, damit weniger Lebensmittel weggeworfen werden? Oder liegt dieser Schritt allein bei uns Verbraucher*Innen?

Zuallererst müssten die Regularien zum MHD geändert werden, sodass Verbraucher*Innen dieses nicht mehr als ‘Wegwerfdatum’ ansehen. Es beginnt also viel mehr auf politischer und volkswirtschaftlicher Ebene. In Frankreich wurde bereits ein Gesetz erlassen, welches es Supermärkten verbietet, Lebensmittel wegzuwerfen. Das wäre etwas was auch in in Deutschland Bewegung schaffen würde. Supermärkte könnten zusätzlich all die Lebensmittel, die sie nicht mehr verkaufen wollen, verschenken anstatt wegzuwerfen. Außerdem könnten Produzent*Innen auf der Verpackung bereits darauf aufmerksam machen, dass das MHD nicht ‘sofort tödlich ab’ heißt und dass die Konsument*Innen ihre Sinne benutzen sollen, um zu testen, ob die Lebensmittel noch genießbar sind. Aldi zum Beispiel, druckt bereits auf ihre Milchverpackungen einen Hinweis zum MHD.

Wo seht ihr euch in der Zukunft?

Unser Ziel ist es, dass alle Menschen auf ihre Sinne vertrauen, anstatt nur auf das MHD zu schauen. Wir möchten, dass sich alle der Verantwortung, nachhaltig mit unseren Lebensmitteln umzugehen, bewusst sind und es ethisch nicht tragbar ist, die Hälfte aller Lebensmittel in der EU zu verschwenden. Deswegen werden wir in den nächsten 10 Jahren 5 Mio. Tonnen Lebensmittel retten und in mehr als 15 Ländern aktiv sein, um das Lebensmittel retten mainstream zu machen.Wir setzen uns deswegen für mehr Bildungsarbeit ein und für ein Umdenken in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, denn nur gemeinsam können wir die 1.6 Milliarden Tonnen Lebensmittel die weltweit jährlich verschwendet werden nachhaltig reduzieren.

Vielen Dank für das Interview!

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