Viva Melancholia!
Dezembermorgen, 6.15 Uhr – der Tag beginnt. Mein Geist erschreckt beim klirrenden Ton des Weckers und eliminiert auch noch den letzten Funken Hoffnung meines Unterbewusstseins, von der Früh verschont zu bleiben. Mühselig unter Kraftaufwand halte ich die Augen geöffnet, fixiere – jede Resignation könnte mich im Nu zurück in die erstrebenswerte Nachtruhe katapultieren.
Der Blick aus dem Fenster über mir erscheint surreal. Mein Morgen beginnt ohne Licht, denn noch immer hält die Nacht ihr dunkles Gewandt über die Welt und vermittelt träumerischen Frieden. Das Bild im Fenster einem letzten Foto gleichend, nehme ich Abschied von der Nacht und stelle mich der bitteren Realität. Hatte ich mir nicht einst geschworen, nie wieder zu solch unmenschlichen Zeiten aufstehen zu müssen?
Kalte Luft betritt beim ersten Atemzug während des immer selben Weges zum S-Bahnhof meine Lungen…

Was für schmalzige, beinah theatralische Worte, denkt ihr jetzt? Ich könnte ganze Bände so füllen. Dabei habe ich nichts anderes getan, als einen typischen Donnerstag Morgen zu beschreiben. Natürlich hätte ich ihn wesentlich nüchterner und sachlicher in Worte fassen können, aber dann wäre das Thema dieser Adventsausgabe nicht halb so plastisch angekommen – die (Winter-)Melancholie.
Es bedurfte keiner großen Anstrengung oder Scheibkunst, derartige Ausdrücke zu finden. Das könnte daran liegen, dass ich mir einmal ganz die Mühe gemacht habe, relativ detailliert meine Gedanken und Emotionen in jener beschriebenen Situation zu reflektieren und dabei festzustellen, wie vertraut sie mir doch vorkommen. Möglicherweise neige ich sehr schnell zur Melancholie, oder es ist der Winter, der gerne ein melancholisches Spiel mit mir spielt.

Aber was ist diese “Melancholie”?
Ein gewisses empirisches Verständnis darüber hat mit Sicherheit der Großteil der Menschen. Natürlich besitzt der Begriff an sich auch eine Etymologie. Der Duden definiert die Melancholie als einen “von großer Niedergeschlagenheit, Traurigkeit oder Depressivität gekennzeichneter Gemütszustand“1. Der Begriff stammt ursprünglich vom mittelhochdeutschen melancoli(a) ab, angelehnt an das spätlateinische melancholia, welches wiederum im altgriechischen μελαγχολία (melangcholía) wurzelt, was so viel wie „Schwarzgalligkeit“ bedeutet. 2
Erfasst einen die Melancholie, kann es durchaus organisch werden. Wer kennt nicht dieses Gefühl vom Magen, der sich umdreht, von einem schweren Herzen oder Gewichten auf dem Brustkorb?
Tatsächlich ist die Melancholie unlängst Gegenstand der Wissenschaft, denn vieles lässt sich psychologisch-medizinisch erklären und steht oft mit der kalten, dunklen Jahreszeit des Winters im Zusammenhang. So hatte ich die Freude, mit Herrn Prof. Dr. Med. Tom Bschor telefonisch ins Gespräch zu kommen. Er ist unter anderem Chefarzt der Abteilung für Psychiatrie der Schlosspark-Klinik Berlin. Im Interview erklärt er mir zunächst nochmal, was eine Melancholie grob beschreibt:
Wie im Interview deutlich wird, ist die Melancholie auch stets Teil künstlerischer Schaffenskraft gewesen. Ob nun die Natur oder Städte, alles scheint in Grau getunkt. Wenn allein das nicht schon als Vorlage großartiger Malereien, Gedichte oder Lieder dient, die uns eskapistisch Zäsuren im oft so routinierten Alltag schenken…
So ist es z.B. die Musik von Wedard, die ich nicht zuletzt aufgrund ihrer Melancholie mit dem Winter verbinde:
https://www.youtube.com/watch?v=uPdXOFb8K24
Wir sehen, die Melancholie hat nicht nur ihre Schattenseiten. Schatten kann sie auch erst dann werfen, wenn sie in ein abnormales bzw. dysfunktionales Licht gestellt wird. Deshalb lautet mein Fazit: Nehmt sie an und schöpft aus ihr, oder um Damaris Wieder zu zitieren:
Warum sehen alle Menschen Melancholie als etwas Schlechtes an? Für mich ist es intensive Zeit, die ich ganz allein mit mir und meiner Seele verbringe.
Damaris Wieser (*1977), deutsche Lyrikerin und Dichterin
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1 https://www.duden.de/rechtschreibung/Melancholie
2 https://www.wortbedeutung.info/Melancholie/
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