Ostdeutsche Identitäten – gibt es die noch?
Vom Selbstverständnis der jungen Deutschen aus den neuen Bundesländer
30 Jahre nach der Wende scheint die Unterscheidung in Ost- und Westdeutschland auch weiterhin eine Rolle zu spielen. Doch diese wird nicht nur in unterschiedlichen Gehältern oder politischen Ausrichtungen deutlich. Auch die zweite Generation nach ´89 zeigt, ihr ostdeutsches Selbstverständnis hat sie noch nicht abgelegt.
Meine Oma stellt mir dampfenden Tee auf den Tisch. Ich lehne an der aufgedrehten Heizung und höre zu. Sie erzählt vom ‚Stammtisch‘, ihrem allwöchentlichen Kneipentreffen mit guten Freunden und gutem Bier. Heute hätten sie die neue Käthe Kollwitz Ausstellungen in Apolda ausgewertet, den anstehenden Urlaub in Österreich besprochen und die letzten, bis zum bitteren Ende ausgefochtenen Uno-Runden nachbesprochen. Sie hätten viel zu lachen gehabt.
Aber das war nicht immer so. Zumindest nicht immer nur so.
Dieser Stammtisch aus Jena, einer Stadt im Herzen Thüringens existiert seid über dreißig Jahren. Die Freunde und Kollegen meiner Oma konnten nicht nur ihre ersten Erfahrungen im Studium miteinander teilen, oder die ihrer ersten Kinder, sondern auch die Erfahrung des Lebens in der DDR, der Friedlichen Revolution und schließlich der Wende.
Sechzig Kilometer weiter im Süden erzählt mein Opa aus dem anderen Teil meiner Familie von seiner Funktion als Kreisbeauftragter in Greiz. Die DDR würde ja geschichtlich verpönt. Obdachlose hätte es nicht gegeben, genauso wenig wie eine Preiserhöhung für Wasser oder Strom.
Seine Aufgabe bestand neben dem Heranbilden junger, sozialistischer Persönlichkeiten in der Berufsschule, auch darin, Menschen und Familien, die einen Antrag auf Ausreise gestellt hatten, den Wegzug in den Westen auszureden. Auf die DDR lässt er wenig Schlechtes kommen.
Ich beobachte seid einiger Zeit, wie in meinem Umfeld mit zunehmendem Alter ein Bewusstsein für diese ostdeutschen Familiengeschichten wächst und sich damit auch eine verstärkte Identifikation mit der ostdeutschen Vergangenheit herausbildet.
Und damit bin ich, wie eine Studie der Otto-Brenner Stiftung im Februar 2019 zeigt, nicht allein. 22 Prozent der befragten jungen Ostdeutschen gaben ihr nach an, sich explizit als ostdeutsch zu verstehen.
Ich frage mich, wie ist diese Identität geprägt? Ist sie denn überhaupt berechtigt, nach über 30 Jahren Wende? Ist die Unterscheidung in ‚Ost‘ und ‚West‘ in dem vereinigten Land, in dem wir leben, nicht längst überfällig?
Laut des Jenaer Historikers Jörg Ganzenmüller ist das sogenannte ‚Familiengedächtnis‘ für junge Ostdeutsche die wichtigste Quelle für Wissen zur DDR oder der Wende.
Die Geschichten aus der Familie, die Erfahrungen und Prägungen brennen sich in das eigene Identitätsbewusstsein ein. Auch der Soziologe Daniel Kubiak beschreibt dieses Phänomen:
„(…), ganz viel Frage des Ostdeutschseins wird darüber verhandelt, dass die Eltern in der DDR aufgewachsen sind, dort spezifische Erfahrungen gemacht haben und auch ganz viel darüber verhandelt, wie es den Eltern nach der Wiedervereinigung ging. Also da spielen so Fragen von Arbeitslosigkeit eine große Rolle, von Betrieben, die geschlossen wurden, und dass dann, die Leute eben sagen, und da fühle ich eben auch meine ostdeutsche Herkunft, oder meine ostdeutsche Identität meinetwegen, dass ich da ganz klar sagen kann, das macht auch was mit mir.“
In meinem Fall sind das die Erzählungen meines Vaters, der sich, wie so viele ehemalige Bürger der DDR kurz nach der Wende statt eine Übernahme durch die BRD einen anderen, einen neuen sozialistischen Staat gewünscht hatte. Es sind die Bilder, die meine Oma von ihrer Heimatstadt zeichnet, als es noch eine lebendige, kleine Stadt war, die nichts mit der grauen Provinz zu tun hat, der sie heute nahekommt. Es sind die Erzählungen von innerfamiliären Konflikten und Trennungen, die die Mauer mit sich brachte, ebenso wie die Erzählungen von billigem Wohnraum, Pioniertüchern und Appellen in der Schule.
Die DDR ist das historische Feld, das ich betreten kann, ohne ein Buch aufschlagen oder eine Dokumentation raussuchen zu müssen. Es ist das Feld, was sich, heute noch, hinter meiner eigenen Haustür versteckt, wenn auch mal mehr, mal weniger deutlich.
Die Folgen dieser Historie lassen sich heute noch gut erkennen. Wenn ich, um meine Studienstadt zu erreichen, mit dem Zug zwischen Thüringen und Sachsen-Anhalt pendele, kann ich draußen die Provinz an mir vorbeiziehen sehen. Grüne Wiesenlandschaft reiht sich an ergraute Kleinstadt, an leeres Industriewerk, an Reichsflagge, an kleine Burg über der Saale.
Dass sich die, mir so spürbaren Erfahrungen meiner Familie auf das Verhältnis zu meiner Heimat auswirken und damit auch auf Teile meiner Identität, scheint mir nur logisch.
Es zeigt sich aber auch, dass die Entstehung einer ostdeutschen Identität auch andere, möglicherweise greifbarere Ursachen hat. Sie ist oft Resultat aus den, als ungerecht empfundenen Erfahrungen, die junge Menschen im Osten machen. Der Deutschland Monitor der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ 2020 kam zu dem Ergebnis, dass sich 66 Prozent der Ostdeutschen als Bürger und Bürgerinnen zweiter Klasse fühlen.
Das Gefälle zwischen Ost und West ist aber keine Sache des Gefühls oder der Wahrnehmung. Aufstiegschancen und Gehalt sind im Westen immer noch deutlich höher als in den neuen Bundesländern. Eine Vollzeitkraft im Osten verdient im Schnitt 700 Euro weniger als im Westen. Dazu kommt, dass Ostdeutsche nicht nur seltener, sondern auch deutlich weniger erben. Die Ungleichheit im Vermögen zwischen Ost und West wird also von Generation zu Generation weitergetragen.
Ganz besonders in Momenten der gefühlten oder tatsächlichen Abwertung des Ostens bildet sich bei jungen Menschen ein Identitätsgefühl heraus. Kubiak beschreibt: „(…) sobald der Osten zum Beispiel in den Medien abgewertet wurde, dann haben junge Menschen eine ostdeutsche Zugehörigkeit angenommen, die ansonsten gar nicht so präsent war.“ (Quelle:30JahreMauerfall)
Dies können Momente sein, in denen der Osten mit Rechtsextremismus gleichgesetzt wird oder als weniger fortschrittlich angesehen.
Ostdeutsches Identitätsbewusstsein ist also nicht nur das Produkt familiärer Erzählungen, die in einem weitergetragen werden, sondern auch Reaktion auf Diskriminierung. Das spiegelt sich in der Tatsache, dass es zwar eine ‚ostdeutsche‘, aber keine ‚westdeutsche‘ Identität gibt. Das zeigt sich auch in den Ergebnissen der Otto-Brenner-Stiftung. Geben 22 Prozent der jungen Ostdeutschen an, sich explizit als solche zu verstehen, geben auf der anderen Seite nur 8 Prozent der Westdeutschen an, sich als ‚westdeutsch‘ zu identifizieren. Während 57 Prozent der Westdeutschen angeben, es läge kein Unterschied in der Herkunft zwischen Ost und West, denken zwei Drittel der jungen Ostdeutschen das Gegenteil. Kubiak beleuchtet das Phänomen: „Westdeutsche nehmen sich selbst als normale Deutsche wahr und betrachten beispielsweise den Osten dann als anders.“ (Quelle:30JahreMauerfall)
Selbst in einem seit nunmehr drei Jahrzehnten geeinigten Deutschland wirkt die Geschichte der DDR noch nach. Auch in unseren Köpfen und Identitäten. Trotzdem – das Denken in den Kategorien ‚Ost‘ und ‚West‘ nimmt kontinuierlich ab. Ob meine Generation die letzte sein wird, die auch in ihrer Identität durch die Geschichte der DDR beeinflusst ist, hängt sicherlich davon ab, wie die Wirtschaft im Osten weiterhin an Aufschwung gewinnt und junge Menschen ihre Perspektiven einschätzen.
Ein Artikel von Jule Floßmann
Quellen:
Studie der Otto-Brenner-Stiftung von 2019:
https://www.otto-brenner-stiftung.de/fileadmin/user_data/stiftung/02_Wissenschaftsportal/03_Publikationen/AH96_Nachwendegeneration.pdf
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– 30 Jahre Mauerfall. Wie Junge auf Ost und West schauen. Ann Kristin Schenten 01.10.2019 zdfheute
https://www.zdf.de/nachrichten/heute/30-jahre-mauerfall-wie-junge-auf-ost-und-west-schauen-100.html
– Die Nachwuchs-Generation Ost Junge deutsche Zweiheit
Marie-Sophie Schiller 03.10.2018 Deutschlandfunk
https://www.deutschlandfunk.de/die-nachwuchs-generation-ost-junge-deutsche-zweiheit-100.html
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