Kritik üben
Vom studieren (lateinisch studere „[nach etwas] streben, sich [um etwas] bemühen“)
Die Stimmung im Raum ist konzentriert und ruhig. Zehn Leute sitzen wortlos im Kreis und denken angestrengt nach. Es ist, als würde eine neue Erkenntnis unter der hohen Altbaudecke schweben und noch keiner hätte es geschafft, sie zu greifen. Den neuen Aspekt für alle gleichermaßen hörbar in Worte zu fassen und auf den Punkt zu bringen.
Es ist Ostersonntag und in der Hafenstraße 7 wird wieder diskutiert. Heute Abend geht es um die Demokratie. Diesem riesigen Thema, bei dem es so viel auseinander zu nehmen und zu besprechen gilt, kann man nur schwer an einem Abend beikommen. Deshalb diskutieren wir über das Unterthema „Wahlen“ und die Kritiken daran, die gerade jetzt zu Zeiten von Brexit und Trump wie Pilze aus dem Boden schießen.
Für mich ist das, was in unserer Diskussionsrunde entsteht ein Konstrukt. Ein großes, unsichtbares Kunstwerk, über unseren Köpfen, an dem wir gemeinsam Arbeiten. Unser Ziel ist es, ungreifbare Wörter wie „Demokratie“ oder „das Geldsystem“ ein bisschen durchschaubarer werden zu lassen, bis wir das Gefühl haben, benennen zu können, um was es dabei geht. Wie viel Konzentration das erfordert, ist vielleicht von außen schwer zu verstehen. Auch wir haben einige Zeit gebraucht um zu lernen, so miteinander zu reden. Das „Geschwafel“ einfach weg zu lassen, fokussiert zu bleiben und gemeinsam an einem Gedanken zu „arbeiten“.
Schließlich wird das Schweigen im Raum von zaghaften Worten durchbrochen. Ein Gedanke, der noch so frisch ist, so neu und unbekannt, dass man ihn selbst noch nicht von allen Seiten betrachten konnte. Deshalb wird vorsichtig formuliert, mit Pausen und Sätzen, die noch unvollständig sind und nur darauf warten, gedanklich wieder aufgegriffen zu werden. Diskutieren bedeutet hier weniger Schlagabtausch, sondern viel eher immer wieder neu nach Worten zu suchen.
Was nun regelmäßig im kleinen Kreis in der „Hasi“, dem besetzten Haus in der Hafenstraße 7 in Halle, stattfindet, ist eigentlich nur die informelle Fortführung eines Seminars des ersten Semesters im Studiengang Kultur- und Medienpädagogik an der Hochschule Merseburg. Was sich unter dem Titel „Kulturpolitik“ verbarg, stellte sich schnell als Diskussionsrunde zu Themen, die vielen von uns auf der Seele brennen, heraus. Mal war der Aufhänger ein Referat über das Handelsabkommen TTIP, an das sich schnell die Frage nach der Verteilung der Macht auf der Welt anschloss und die Frage wie und nach welchen Prioritäten das gesellschaftliche System ganz grundsätzlich funktioniert. Oder das Seminarthema nannte sich „Leitkultur“ und uns beschäftigten Dinge wie: „Gibt es überhaupt so etwas wie eine Leitkultur? Und wenn nicht, in wessen Interesse liegt es dann, glaubhaft zu machen, es gäbe eine deutsche Leitkultur, deren Existenz gefährdet sei?“
„Kultur hilft uns, alles andere auszuhalten“
Dieser provokante Satz aus dem Seminar hatte sich noch lange in meinen Gehirnwindungen festgesetzt. Doch zufrieden stellten mich die wenigen und viel zu kurzen Gelegenheiten, auf diese Art ins Gespräch zu kommen noch lange nicht und so ging es wohl auch einigen Kommilitonen. Gegen Ende des Seminars hatten jedes Mal etliche Leute das Gefühl, den Raum nicht verlassen zu können, weil man doch gerade erst an der Oberfläche gekratzt hatte. So kam die Idee auf, das Seminar auf eigene Faust weiterzuführen, und den Dozenten konnten wir dazu gewinnen, uns dabei zu unterstützen.
Jetzt sitzen wir schon zum vierten Mal zusammen. Noch immer bereit, uns bestehende Strukturen und erdachte Lösungen für die Probleme unserer Gesellschaft anzuschauen und enttäuscht zu werden. Denn das wurden wir bis jetzt jedes Mal aufs Neue. Trotzdem will Niemand den Ostersonntag lieber beim Filmabend im Bett verbringen. Wir sind bereit, auf eine Lösung zu warten, immer mehr zu verstehen und schließlich selbst auf gute Gedanken zu kommen.
In der Runde rechts von mir sitzt Sarah auf einem kaputten Stuhl im Schneidersitz. Sie denkt nach und nagt dabei an ihrer Unterlippe. Wenn man sie fragt, warum sie unsere Diskussionsrunden wichtig findet, sagt sie Dinge wie: „Obwohl ich inmitten dieser Themen lebe, merke ich, dass Klärungsbedarf besteht. Ich finde es notwendig und wichtig, mir mehr grundlegende und tiefgehende Informationen und Zusammenhänge über die Politik und das System anzueignen. Mir ist in unseren Diskussionen die Komplexität der Gesellschaft, des politischen Systems und ihre Differenzen mehr bewusst geworden. Oft gehe ich mit einem deprimierten Gefühl nach Hause, aber ab und zu entwickeln sich Ideen, die erneut auf einen Austausch warten“. Auch Luisa, die in Halle lebt und ebenfalls in Merseburg studiert, gibt bereitwillig Auskunft darüber, warum sie gerne hier ist. „Ich finde es wichtig, strukturiert zu lernen, wie man Kritik übt“ sagt sie. „Viele Dinge, die ich in der Vergangenheit kritisiert habe sind durchaus kritikabel. Aber mir fällt auf, dass ich die Dinge oft nicht im Kern kritisiere, weil ich den Kern nicht verstanden habe. Das geht jetzt besser.“
Draußen dämmert es bereits, doch das fällt keinem wirklich auf. Ein paar Tassen Tee und ein paar Flaschen Bier wurden inzwischen geleert. Und es werden wohl noch viele mehr werden, bis wir das Gefühl haben, nicht mehr nur an der Oberfläche zu kratzen, sondern ein paar wesentliche Dinge zu begreifen. Und wenn ich mich mitten in der Nacht auf den Weg nach Hause mache, dann bin ich glücklich. Denn um ehrlich zu sein, habe ich mir studieren genau so vorgestellt.
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